ECHTZEITMUSIK Compilation - Liner Notes by Björn Gottstein


Latency, Disruptions, and Errors

The recordings on this compilation were for the most part created in 2010/11. They portray a cross section of Berlin's musical landscape that traverses all conceivable genres - from jazz, rock, and New Music to sound art and world music. Naturally, that which once formed the centre of the Echtzeitmusik movement is still present: the sense of reserve, the predominance of noise, the misappropriation of instruments and machines. And all the things one associates with free improvised music in Berlin are still an important and living part of the musical language: the toneless wind instrument, the rubbed drumskin, the prepared guitar, the auscultation of everyday objects, the no-input mixer, field recordings. But the freedom, and even the need, to escape self-constructed stereotypes has greatly increased. Many protagonists of the Echtzeitmusik scene seek to develop methods of expression that don't exclude forms of music that have already been internalized and mastered. "We've reached a limit, and now many people are coming up with new stuff again," says someone at the end of Annette Krebs' in between, bringing the development over the last years to a point.

However one wishes to characterize Berlin's Echtzeitmusik scene today, it cannot be about establishing a common denominator or core in order to define any divergences as exceptions. The diverse methods of presentation, extending from concerts and performances to sound installations and speaker music, already confute such a schematic understanding. Instead, we are presented with a number of questions. First, how does Echtzeitmusik relate to existing music? On the one hand, there is its anti-institutional lineament. Musicians simply don't accept the existing forms of musical expression and say, "Now we'll make sound installations" or "Now we'll make free improv," but extract themselves from catagories to such an extent that only artistic autonomy retains its priority. Just to be clear, it's not so much about authenticity as it is about extracting oneself from the daily grind.

What does all this have to do with Berlin? If the city offers anything, it's the opportunity for the self-development of musicians. While it must be said the financial conditions for this are catastrophic, the number of venues, the frequency of concerts, and the open-minded and patient audiences make the aesthetic directness of the scene possible. That Berlin is a vibrant centre for experimental music may be a truism, but it's one that is clearly manifest in the music. The scene is not only stylistically open but international as well. The networking of its musicians is a possibility, but not a precondition. Among the participants, some prefer to work alone but are nonetheless part of the collective. And alongside long-term collaborations such as Perlonex, Phosphor, Baghdassarians/Baltschun, or Ercklentz/Neumann, there are many temporary formations that are important to the development of the scene.

So, what do we hear when we listen to Echtzeitmusik from Berlin?

1) Do we hear neighborhoods, such as Neukölln or Wedding? The raw and the awkward are the code words of urbanity. And the boundlessness of time and space, the penchant for an acoustic vacancy, assumes a parallel between the sound and the city. One could almost call it an attitude towards life.

2) Is Echtzeitmusik an 'avantgarde of the avantgarde'? One would hope that its innovations will have an impact on the self-conception of the avantgarde. To put it in a somewhat old-fashioned way: the musicality of porridge can no longer be denied.*

3) Do we hear a critical examination of the present? How else can one interpret these sounds? The latency, the disruptions, the errors, the retreat, the refusal. These are the dispositives of an aesthetics of resistance.

4) Is it about beauty? Only if it's also about ugliness. Sometimes the music aspires to magical moments, to a kairos, while intentionally prohibiting it at other times.

5) Is Echtzeitmusik a political music? Or, to put it differently, is it only political when one sees the undercutting of norms and givens as a political act? Perhaps it makes sense to look at the 'life concepts' of individual musicians. It's not about sales or audience numbers, nor about well-paid university positions. To a certain extent, one can talk about a true bohemia, in which a self-aggrandizing way of life gives way to a subcultural intellectuality and anti-bourgeois sensibility.

*Sabine Ercklentz/Hanna Hartman breakfast with trumpet für Trompete und mikrophonierten Haferbrei. UA 16. 2. 2009, Labor Sonor, Berlin.


Latenz, Störungen und Fehler

Die hier versammelten Aufnahmen entstanden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in den Jahren 2010/2011. Sie bilden einen Querschnitt durch die Berliner Musiklandschaft dieser Jahre und offenbaren dabei eine stilistische Breite, die fast alle denkbaren Genres streift - vom Jazz über die Rockmusik und die Neue Musik bis hin zur Klangkunst und zur Weltmusik. Natürlich ist das, was einst im Mittelpunkt der Echtzeitbewegung stand, in vielen Werken noch präsent: die Zurückhaltung, die Geräuschlastigkeit, die Zweckentfremdung der Instrumente und Maschinen. Alles, was häufig mit frei improvisierter Musik aus Berlin assoziiert wird, ist heute ja immer noch ein wichtiger und lebendiger Teil der musikalischen Praxis: das tonlose Blasinstrument, das geriebene Trommelfell, die präparierte Gitarre, auskultierte Alltagsgegenstände, das rückgekoppelte Mischpult, Fieldrecordings. Aber die Freiheiten und wohl auch das Bedürfnis, sich von selbst erschaffenen Stereotypen loszusagen, sind größer geworden. Viele Akteure der Echtzeitmusikszene geben dem Wunsch nach, die Ausdrucksmöglichkeiten wieder so zu erweitern, dass musikalische Formen, die man liebt, verinnerlicht hat und beherrscht, nicht mutwillig aus dem musikalischen Vokabular ausgeklammert werden. "Jetzt ist man zu so einer Grenze gekommen, und jetzt probieren viele Leute wieder ganz andere Sachen", sagt jemand am Ende von Annette Krebs in between, und bringt damit die Entwicklung der vergangenen Jahre auf den Punkt.

Es kann also demjenigen, der heute etwas stimmiges über die Berliner Echtzeitmusik zu sagen wünscht, nicht darum gehen, einen Nenner oder einen Kern zu formulieren, um Abweichungen dann als Ausnahmen von der Regel gelten zu lassen. Schon die unterschiedlichen Präsentationsformen, die vom Konzert und der Performance über die Klanginstallation bis zur Lautsprechermusik reichen, verbieten einen derart schematischen Zugriff. Fragen aber drängen sich auf. Zunächst: Wie verhält sich die Echtzeitmusik zur bestehenden Musik? Da ist zum einen ein antiinstitutioneller Zug geltend zu machen. Dass man sich also nicht einfach den existierenden Formaten des Musiklebens zuordnet und sagt: "wir machen jetzt Klanginstallationen" oder "wir machen jetzt Free Improv", sondern dass man sich den Kategorien so weit entzieht, dass die künstlerische Autonomie Priorität geniesst. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht dabei nicht um Authentizität, sondern darum, sich dem Trott des Betriebs zu entziehen.

Was hat Berlin jetzt damit zu tun? Wenn man der Stadt eins zugestehen muss, dann dass sie Musikern die Möglichkeit zur Selbstentfaltung bietet. Dass die finanziellen Bedingungen, unter denen das geschieht, katastrophal sind, soll nicht verschwiegen werden. Aber die Zahl der Veranstaltungsorte, die Regelmäßigkeit, mit der Konzerte stattfinden, und das aufgeschlossene und geduldige Publikum machen die ästhetische Offenheit der Echtzeitmusik erst möglich. Dass Berlin als Stadt der experimentellen Musik über eine grosse Ausstrahlung verfügt, ist ein Gemeinplatz, der sich gleichwohl in der Musik selbst nachvollziehen lässt. Nicht nur die stilistische Offenheit, auch die hohe Internationalität der Szene ist dabei geltend zu machen. Die Vernetzung der Musiker untereinander ist eine Möglichkeit, keine Voraussetzung. Es sind unter den Akteuren auch solche, die lieber allein arbeiten und die dennoch Teil der Gemeinschaft sind. Es gibt neben den langjährigen Kooperationen, wie Perlonex oder Phosphor oder Baghdassarians/Baltschun oder Ercklentz/Neumann, auch flüchtige Begegnungen, die der musikalischen Entwicklung auch wichtige Impulse verleihen kšnnen.

Was hören wir also, wenn wir Echtzeitmusik aus Berlin hören?

1) Hören wir Stadtteile wie Neukölln und den Wedding? Das Raue und das Sperrige sind Chiffren der Urbanität. Und die Großzügigkeit der Zeit und des Raums, das Faible für akustischen Leerstand, lässt eine Parallele zwischen dem Stadt- und dem Klangbild vermuten. Fast könnte man Lebensgefühl dazu sagen.

2) Ist Echtzeitmusik eine Avantgarde der Avantgarde? Man meint hoffen zu dürfen, dass die Berliner Innovationen sich auf das Selbstverständnis der Avantgarde auswirken. Um es ein wenig altmodisch zu formulieren: Die Musikalität des Haferschleims lässt sich heute nicht mehr leugnen.*

3) Hören wir eine kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart? Wie anders sollte man die Klänge deuten? Die Latenz, die Störungen und die Fehler, der Rückzug und die Verweigerung - das sind die Dispositive einer Ästhetik des Widerstands.

4) Geht es um Schönheit? Nur, wenn es auch um Hässlichkeit geht. Einerseits strebt die Musik nach magischen Momenten, nach einem Kairos, andererseits verunmöglicht sie eine solche Erfahrung.

5) Ist Echtzeitmusik politische Musik? Oder anders gefragt: Ist sie nur dann politisch, wenn man das Unterwandern von Normen und Selbstverständlichkeiten als politischen Akt begreift? Vielleicht ist es sinnvoll, auch einmal auf die Lebensentwürfe der einzelnen Musiker zu schauen. Darauf, dass es weder um Verkaufs- und Zuschauerzahlen geht, noch um gut dotierte Hochschulstellen. Bis zu einem gewissen Grade liesse sich von einer Bohème sprechen, wenn man mit dem Begriff nicht die selbstdarstellerische Lebensführung meint, sondern die subkulturelle Intellektualität und das Antibürgerliche.

*Sabine Ercklentz/Hanna Hartman breakfast with trumpet für Trompete und mikrophonierten Haferbrei. UA 16. 2. 2009, Labor Sonor, Berlin.

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