Tuzub 37

Komposition, Textbearbeitung, Video, Audio, Licht und Live-Elektronik:
MENSCH MENSCH MENSCH - Liz Allbee und Burkhard Beins

Sprecher: Paul Sonderegger
Glühlampensequenz: Michael Vorfeld

- in deutscher Sprache / in German language -

Das Berliner Experimentalmusik-Duo Mensch Mensch Mensch präsentiert ein audio-visuelles Bühnenstück basierend auf Paul Gurks zu unrecht vergessenen dystopischen Roman TUZUB 37 aus dem Jahr 1935. Unterschiedlich miteinander verschränkte narrative und assoziative Ebenen aus Text, Video und elektro-akustischer Musik evozieren eine düstere Endzeitvision aus einer dunklen Zeit, die sowohl die Massenideologie und Brutalisierung während der Nazizeit reflektiert, als auch bereits Szenarien gesellschaftlicher Mediatisierung sowie der Einflussnahme des Menschen auf die Natur kulturpessimistisch vorwegnimmt.

Video-Dokumentation

Online-Rezension: UA Acker Stadt Palast, Berlin 1.9.2015

"'Die Autobusse schwankten wie in schwerer Trunkenheit, als könnten sie sich nur dadurch aufrechterhalten, daß sie in taumelnde Schlingen rannten. Die Räder mahlten im Asphalt. Das Kreischen der Signale kämpfte sich durch die gelähmte Luft. Die tausend Schreie der Straße, der Takt des Jetzt, zuckten rasend hintereinander her wie elektrische Entladungen. Nur die Menschen, hastig gleitend, glichen einem chinesischen Schattenspiel auf einer grellen gelben Leinwand.'
Diese Sätze stammen nicht, wie man vielleicht meinen könnte, aus einem frühen Prosastück Arno Schmidts, sondern aus dem 1927 erschienenen Roman 'Berlin' von Paul Gurk. Er gehört zu jenen bedeutenden Autoren, denen Nachwelt und Literaturgeschichte wenig Interesse abgewinnen konnten.
Gurk war ein Aussenseiter, ein eigensinniger, in private Mythen eingesponnener Einzelgänger, der wenig dazu getan hat, sich selbst und seinen Büchern zu Ansehen zu verhelfen. Wie Arno Schmidt kapselte er sich ab und hielt sich vom Literaturbetrieb fern, nur daß er nicht in der Heide, sondern in der Millionenstadt Berlin lebte. Gurk, der seine letzten 20 Lebensjahre in einer Hinterhofwohnung im Wedding verbrachte, war einer der sprachmächtigsten Gestalter der Großstadtwelt, ein ungemein vielseitiger Erzähler und Dramatiker. Vielseitige Schriftsteller haben es schwer. Wenn die gängigen Stiletikettierungen nicht auf sie passen, zeigt sich die Kritik oft verstört, und so fiel Gurk schon zu Lebzeiten durch die beliebten Raster. Gurk ist ein Irrationalist, der große Mythen gestaltet, ein konservativer Anti-Bürger, er ist unpolitisch und asozial, er ist ein pessimistischer Romantiker, ein Träumer, der gleichwohl seine Träume ironisch seziert."
(aus: Hans J. Schütz, 'Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen', Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts, C.H.Beck, 1988)

Der 1935 erschienene Science-Fiction-Roman TUZUB 37 ist nicht nur eine scharfe Satire auf die technik- und fortschrittsbegeisterten Nazis, die im Glauben an ihre Überlegenheit stur alles Normwidrige auszumerzen versuchen, es wurde aufgrund seiner drastischen Darstellungen damit einhergehender totaler Umweltzerstörung auch schon als 'grünes 1984' bezeichnet. In der Zukunftswelt der 'grauen Menschheit' verfolgen die herrschenden Kräfte das Ziel, die unberechenbaren Äußerungsformen des Lebens und der Natur auf das mathematisch Greifbare und Regelmäßige zu reduzieren. Um die vollständige Kontrolle über jeden Vorgang auf der Welt zu erhalten, wird schrittweise alles von der Norm Abweichende, alles Individuelle, der Zufall und schließlich das organische Leben selbst eliminiert. Der Plan sieht die Entwicklung vom Maschinenmenschen über die Menschenmaschine bis hin zur Maschinenmaschine vor.

"Es ginge jedoch zu weit, Paul Gurk allein wegen des Romans TUZUB 37 als den antifaschistischen Schriftsteller und Widerständler par excellence hochzustilisieren. Es gibt Anhaltspunkte, daß Gurk wie viele seiner Zeitgenossen der nationalsozialistischen Idee anfangs Sympathien oder zumindest Aufmerksamkeit entgegengebracht hat. Trotzdem ging Gurk danach bald auf Distanz zu den Machthabern. Im Jahr 1935 verbot man seinen Roman 'Tresoreinbruch' sofort nach Erscheinen, da die positive Darstellung von Verbrechern unvereinbar mit der 'gesunden, deutschen Volksseele' sei. Allerdings wurde sein Œuvre nicht pauschal von der staatlichen Zensur kassiert.
Mit TUZUB 37 begann der innere und äussere Bruch mit den Nationalsozialisten. Hinter der futuristischen Fassade verbarg sich ein hochpolitisches und hochaktuelles Buch. Gurk wählte eine ihm gemäße Form von Kritik. Mit wachem Verstand nahm er die Vorboten der düsteren Zukunft wahr. Mit beißendem Witz persiflierte er Mißstände und Auswüchse - und das schon im Jahr 1935, zu einer Zeit, in der der wirtschaftliche Aufschwung unter Hitler viele soziale und politische Probleme übertünchte. Tuzub war sicherlich kein gezielter Frontalangriff auf das nationalsozialistische Regime - ein solcher hätte auch niemals die Hürden der Zensur passiert. Vielmehr sind Gurks Werturteile breiter angelegt und Teile seiner kulturpessimistischen Sichtweise, die bereits in den Romanen der Weimarer Zeit spürbar ist. Auch hat sich Gurk selbst offenbar nicht aus dem Kreise der 'Grauen' ausgenommen. Nach TUZUB 37 erscheinen seine Romane unter dem Pseudonym 'Franz Grau'."
(aus: Klaus Geus, Zwischen Widerstand und Anpassung. Die Kritik am Nationalsozialismus in Paul Gurks dystopischem Roman TUZUB 37, 1998, www.academia.edu)

[ back to mensch mensch mensch ]