Politische Relevanz und subversives Potential

Gewohnte Begriffspaare wie Progressiv und Konservativ oder Rechts und Links werden in der sich beschleunigenden, weltweit vernetzten Informationsgesellschaft zur politischen Orientierung offensichtlich immer unbrauchbarer, da sie vermehrt als Entscheidunghilfen in zunehmend komplexen und oftmals ambivalenten Situationen versagen. So überrascht es nicht, wenn sich die Musik heute mehr denn je solchen eindeutigen Positionierungen verweigert. Zwar habe ich selbst noch eine bundesrepublikanische Späthippie- bzw. Punk/New Wave-Sozialisation erfahren, denke aber dem ungeachtet, dass das eigentlich politisch relevante Potential der Musik ohnehin jenseits liegt von aufwühlendem Revolutionspathos und identifikationsstiftenden Attitüden. Solche politischen Einmischungen können sicherlich gelegentlich ein immenses subversives Potential entfalten, indem sie in Zeiten verfestigter Gesellschaftsstrukturen Irritationen auslösen und dominante Regelsysteme aufstören (was mir auch, zumindest bis 1989 als durchaus angebracht und sinnvoll vorkam). Doch "die Herausforderung der herrschenden Codes geschieht ... nicht etwa durch eine antagonistische Position, sondern wird als eine subversive Strategie zur Eroberung von Sprecherpositionen nur inszeniert. Denn subversiv ist sie nur solange, bis der Code sensibilisiert ist und aus der Krise der Verwirrung und Ambiguität wieder einen Zustand der Ordnung gemacht hat."*

Weniger spektakulär, jedoch langfristig substanzieller erscheint mir dagegen das experimentelle Erproben nicht-hierarchischer Kommunikationsmöglichkeiten in der musikalischen Praxis, - das Ausloten von Vielschichtigkeiten und Ambivalenzen in musikalischen Kommunikationsprozessen. In den "geschützten" Räumen der Musik soll es also nicht nur um die immer wieder neu zu leistende "Befreiung der Klanges" (Varése) aus seiner kulturellen Besetztheit gehen, sondern - damit unlösbar verbunden - auch um eine Erweiterung des Wahrnehmungs- und Kommunikationspotentials. Voraussetzung hierfür ist aber gerade ein autonomer Status der Musik, ein beharrliches Sich-Sperren gegen alle Instrumentalisierungen, allzu enge Einordungen und jeglichen Effizienzdruck.

Die Auflösung und Umgestaltung von Gesellschaftsstrukturen, eine zunehmende Ausdifferenzierung und ein sich auf vielerlei Ebenen immer komplexer verzweigendes Geflecht zwischenmenschlicher, interkultureller und medialer Beziehungen und Aktivitäten werden ohne beharrliches Entwickeln und Erlernen gerade solcher Qualitäten und Fähigkeiten sicherlich nurmehr als wachsende Bedrohung erfahren werden können. Der Musik könnte aber in diesem Zusammenhang eine eminente gesellschafts-politische Bedeutung als psychosoziales Experimentierfeld zufallen, - vielleicht ja sogar über die beteiligten Musiker hinaus durch eine aktiv rezipierende Teilnahme der Hörer und deren Nachvollzug musikalischer Prozesse.
Bei allgemein zunehmender Quantität, aber gleichzeitig abnehmender Qualität von Information scheint es mir insgesamt um eine Schärfung der Sinne und eine damit möglicherweise einhergehende grössere Befähigung zu Pluralismus, Differenzierung und flexiblerer Auswahl signifikanter Momente zu gehen. Denn viele der grössten Gefahren und Bedrohungen der Gegenwart erwachsen offensichtlich immer wieder aus den vermeintlich einfachen Lösungen und den immer schon zu Fanatismus und Terror neigenden, eindimensionalen Sichtweisen jeglicher säkularen oder religiösen Couleur.

Burkhard Beins, Rom 2006


*Annibale Picicci, Noise Culture. Kultur und Ästhetik des Rauschens in der Informationsgesellschaft. Am Beispiel von Thomas Pynchon und Don DeLillo, Berliner Beiträge zur Amerikanistik Bd. 10, 2001, S. 85



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