(...) Mit P1 der Gruppe Phosphor schließt sich der Kreis zum Beginn dieses Textes und den Visionen von Cornelius Cardew. Dreißig Jahre später werden diese Visionen von vielen jungen Musikern mit großer Selbstverständlichkeit verwirklicht: Improvisation ­ ohne jeglichen Bezug zum Jazz ­ als tatsächliche musikalische Kommunikation, die nur bei Achtung des Anderen kreativ sein kann, als Aufeinander-Hören und Aufeinander-Reagieren, als eine in solch kollektiver Gemeinsamkeit individuell verantwortete Klangforschung. In diesen Jahren hat sich ­ getragen von einem internationalen Musizier- und Austauschprozess ­ auch das Verständnis von dem was Improvisation ist verändert. Phosphor, eine 2000 gegründete Formation von acht in Berlin lebenden Musikerinnen und Musikern italienischer, englischer und eben deutscher Herkunft, die in den 1990er-Jahren begonnen haben, an einer ähnlichen musikalischen Sprache zu arbeiten, ist dafür ein typisches Beispiel. Ihrer Musik liegen keinerlei schriftliche Aufzeichnungen mehr zugrunde, und doch verstehen sich die Musiker als Komponisten, bezeichnen die Resultate ihres Musizierens als Echtzeitkompositionen. Das ist keine Wichtigtuerei; die Wortneuschöpfung signalisiert vielmehr die ernsthafte Suche nach einer adäquaten Begrifflichkeit für musikalische Innovationen, die in den letzten dreißig Jahren stattgefunden haben. Bei der Musik von Phosphor manifestieren sie sich als eine neue und stilistisch eigenständige Qualität. Basis dieser klangforscherischen Innovationen ist die Kopplung von akustischen Instrumenten wie Saxophon, Trompete, Tuba, Gitarre und Schlagzeug oder ein von Andrea Neumann selbst entworfenes insidepiano mit electronics, woraus sich ein weites Spektrum von Geräuschklängen als Hauptmusizierfeld ergibt. Vor allem durch die Möglichkeit elektroakustischer Modulationen, auch durch neue Spieltechniken und dadurch neue Klänge, die jeder für sein Instrument entwickelt hat, durch radikalen Verzicht auf die vertrauten Kategorien Melodie, Harmonie und Rhythmus sowie das nicht kalkulierbare Reagieren aufeinander ist Musik erneut zu einer terra incognita geworden, die bei jedem Musizieren weiter erforscht wird. Musik ist hier ein rückblickloser Prozess, an dem die Hörer live teilhaben und der in der Regel viel länger dauert als bei dem Beispiel auf dieser CD.
Ausgangspunkt für die Musiker von Phosphor war die Stille, in die sie ihre Klänge, Töne, Geräuschklangereignisse vorsichtig setzen oder ­ im Falle von P1 ­ auch hineinstürzen lassen. Deren Sein und Werden beobachten sie gleichsam mit den Ohren, reagieren darauf indem sie die Klänge differenzieren, kontrastieren, weiterspinnen, in autonomen Schichten anreichern usw., damit sich aus dem Verhalten der Klänge heraus Gestalten und Strukturen bilden. Die Musik geht zwar von konkreten Klangvorstellungen aus, lässt "aber den Klängen auch eine Offenheit, anders werden zu können. Man hört während des Spielens in sie hinein, um zu erfahren, was steckt da noch drin."* Merkmale dieser musikalischen Sprache sind Behutsamkeit, Transparenz, eine ausdifferenzierte Dynamik des Leisen, ebenso das permanente Neuzusammensetzen von Texturen, ein rauhes zerfurchtes Klangbild voller Überraschungen, überhaupt ein Zustand des kulinarisch nicht Abgeschliffenen, Elementaren. Die Musiker spielen mit der Sinnlichkeit des Materials, vermeiden aber jegliche emotionale Aufgeladenheit und Dramatik. Hinterfragt werden vielmehr Qualitäten und Zustände des Beginnens, Dauerns und Endens eines Klangereignisses, Differenzierungen und Schattierungen von Dynamik, Intensitäten und Energien. Ausgemerzt ist jegliche Erinnerung an vertraute, heimelige Klänge und Zusammenhänge, wodurch sich erneut ein Weg ins Unerhörte öffnet, das die Disproportionen und Disharmonien, die Ziellosigkeit, Wagnisse und Unbehaustheiten unserer Zeit enthält ­ ungeschminkt und wahrhaftig. Bei dieser Befragung des eigenen Instruments und seines Klangpotenzials bildet sich ein "Vokabular" des Umgangs mit den Klängen. Jede Musikerin und jeder Musiker von Phosphor greift darauf ­ sehr individuell ­ zurück, was kompositorische Antizipationen und Entscheidungen ermöglicht. Improvisieren wird zur Echtzeitkomposition.

Gisela Nauck


* Burkhard Beins in: Alte Fragen neu: Form und Inhalt. Ein Gespräch von Gisela Nauck mit Annette Krebs, Andrea Neumann, Serge Baghdassarians, Burkhard Beins und Axel Dörner. DLR/Deutschlandfunk und Positionen "echtzeitmusik", Nr. 62/2005 S.10



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